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Der Künstler Reinhold Pratschner

Eine Begegnung

Die ersten Arbeiten des Künstlers, die ich an den Wänden seines Hauses in Mailand im Sommer 2014 sehen durfte, waren anscheinend Drahtgespinste. Sie stachen so weit in den großen Raum, dass man unmöglich von Dekoration sprechen konnte und es unmöglich war, sie mit sehr entfernt ähnlichen Werken, die im Rijksmuseum Amsterdams hingen, in Verbindung zu bringen. Etwas Beunruhigendes und mit dem sanften lächelnden Ton der Stimme des erläuternden Künstlers Kontrastierendes ging von ihnen aus. Künstler, besonders die jungen heute, erklären ungern was sie motiviert, bewegt, aufregt. Ihr Werk soll es mitteilen und wo es dieses nicht vermag, ist das Unzureichende, so meinen sie, im Betrachter zu suchen.

Wahrscheinlich sind es gerade die Unerklärlichkeit der Welt, die ungenügende gedankliche Rechtfertigung unserer Existenz und die gleichzeitige Wahrnehmung der schwindenden Zeit und ihrer Unerbittlichkeit, die den Schwankenden zwingen, mit Bleibendem zu antworten. Ob Dichter, Musiker, Bildhauer, Maler, jeder versucht mit seinem Werk ein Stück Zeit festzuhalten und es ist nebensächlich, ob er dies bewußt oder unbewußt unternimmt. Die individuelle Begabung scheidet endlich Erfolg von Mißerfolg, wobei Glück und Zufall eine größere Rolle spielen als man wahrhaben möchte.

Verwirrt von den ungewohnten Drahtreliefs und ihren Strukturen, wandte ich mich der Reihe anderer Säle zu, wo die frühen Ölbilder neben gegenwärtigen hingen, Zeichnungen neben Chiffren, Landschaften neben Gestalten, Figuratives neben Abstraktem. Das tastende Herausfinden aus einer verhaltenen, ja weichen Farbenwelt in eine ungeheuer harte, fast gefährliche, deren Entschlossenheit da und dort das Verletzende nicht scheut, geschah in einer verblüffend kurzen Entwicklungsspanne dieses Künstlers und trat ganz besonders in der Ausstellung der Mailänder Galerie Zanuso zutage, wo sie das Bestimmende, das erschreckend Aufsehen erregende bildete. Vom Werben um den Betrachter zur stolzen Einsamkeit ist es nur ein Schritt, den wir anhand von weniger als zwanzig Bildern nachvollziehen können.

Zeitlich weiter Zurückliegendes bietet sich dem Auge lesbar, einordenbar, wenngleich nie herkömmlich: eine Frau, die ihr Gesicht bedeckt, oder eine Art Nomaden-Webstuhl, dann wieder die Abstraktion, oder ist es eine Synthese des Turmspringers von Paestum, daneben der Entwurf eines Entwurfes, oder ein unbegehbares Felsmassiv, ein Schilfdickicht. Die Farben sind noch schläfrig, aber bereits in der monumentalen Landschaft gefrieren sie zu etwas Kantigem. Genau dieses eckige Gletscherweiß, dieses verkohlende Gelb, das feindliche Grün, ein mahnendes Rot sind es, die die nie aufgelassenen, wenngleich immer schwerer sichtbaren Strukturen der neuen Bilder ummanteln und mildern, eh sich das Eigenleben der Farbe einstellt; und mit ihm ihr herrischer Anspruch auf Asyl im Auge des Betrachters.

Der Künstler, der sich anfangs in seiner Verletzlichkeit ausgeliefert hatte, ja selber verletzte, wirbt nun durch etwas, dem die schillernde Vielschichtigkeit und Unbewältigbarkeit des Lebens mehr und mehr abzulesen ist. Scheu und tief im Inneren ihrer erlittenen Bildstrukturen verbirgt sich nun deren Aussage, ihr Zeugnis und noch in der anscheinend jungfräulichen unvermischten direkten Farbe wird Aufdringlichkeit vermieden, ohne der Deutlichkeit Abbruch zu tun. Je länger der Betrachter vor den scheinbar schwer erschließbaren Ölbildern zubringt und ihrem Nervengespinst zu folgen sucht, umso mehr erkennt er den präzisen Plan ihres Aufbaus, ihrer Struktur. Der anfängliche Draht ist unsichtbar geworden, aber er bestimmt immer noch. Die scheinbare Verworrenheit besonders jener weiß-schwarzen Bilder, die von einem schmerzhaften Rest Blutes aus ihrem Inneren zu leben scheinen, weicht umso rascher als der Kunstfreund in den verwandten ähnlichen Darstellungen das Vergilbende, Vertrocknende, Vergehende, ja den Aufschrei derselben vor ihrem Ende erkennt und somit eines Prozesses gewahr wird, dessen Symbol, dessen Wehlaut die Farbe wurde.

Wir erinnern uns, dass die Auseinandersetzung zwischen Goethe und Newton in einem Unentschieden endete, als Goethe der newtonschen Feststellung, die Farbe sei ein physikalisches Ereignis, sein die Farbe ist ein seelisches Erlebnis, entgegenstellte. Der Dichter untermauerte seine Behauptung, indem er unterstrich, dass keinem blind Geborenen das Erlebnis der Farbe Rot mit Hilfe der Erklärung der Wellenlänge vermittelt werden könne. Die Farbe ist nie eine pure Ergänzung der Linie, sie ist ein Eigenes und besteht sehr wohl für sich selber. Sie kann sich einem Umriss fügen, muss es aber nicht, denn sie ist selber Inhalt und Umriss.

Und genau hier in der Bewältigung dieser Erkenntnis setzt die Berechtigung von Kunst und Künstler jenseits von Markt und Manipulation als wirkliches Weltkultur Erbe ein, denn nur mit ihr setzt er seinen Zweifeln jenes Denkmal, das seine Lebensberechtigung ausspricht und das wir aufs neue in den überraschenden kraftstrotzenden Arbeiten eines jungen Meisters begrüßen.